Hörner, Spiegel, Heiligtümer
Es ist gegen Ende des 15. Jahrhunderts, als die Verantwortlichen für die Heiligtumsfahrt mehr als 140.000 Pilger an einem Tag zählen. Und dies zu einer Zeit, als die Stadt Aachen gerade einmal 10.000 Einwohner hat. Eine unvorstellbar große Zahl an Frauen und Männern – zum Teil Monate unterwegs – die sich auf den Straßen drängen. Sie stehen auch auf den Dächern der umliegenden Häuser und halten kleine Spiegel in die Höhe, als die Heiligtümer von den Galerien des Doms gezeigt werden. Diese so genannten Aachen-Spiegel sollen dazu dienen, die Gnade und die Kraft der Heiligtümer einzufangen und diese mit nach Hause zu nehmen. Der Lärm der Pilgerhörner, die während der Zeigung geblasen werden, ist vermutlich ohrenbetäubend und würde uns heute wohl an den Klang südafrikanischer Vuvuzelas erinnern.
„Wallfahrt des stummen Protests“
Angefangen hat alles zur Zeit Karls des Großen. Damals ist Aachen noch nicht mehr als eine kleine Ansiedlung. Es gibt einige Wohnhäuser, die Pfalz mit dem Mariendom als Pfalzkapelle – und es gibt Reliquien. Die fränkischen Reichsannalen berichten, dass zur Einweihung der Pfalzkapelle im Jahr 799 ein sagenhafter Reliquienschatz aus Jerusalem übersendet wird. Dieser zieht schon damals zahlreiche Pilger an, vor allem zum Kirchweihfest am 17. Juli, das mit einem Ablass verbunden ist. Die Heiligsprechung Karls im Jahr 1165 lässt die Pilgerzahlen steigen. Zwischen 1220 und 1239 entsteht der Marienschrein. Seit dieser Zeit wird die Wallfahrt „Aachener Heiligtumsfahrt“ genannt. Mit Fertigstellung des Schreins wird dann auch bekannt, welche Reliquien in ihm aufbewahrt werden sollen, nämlich die Tücher, die bezeichnet werden als die sogenannten Windel(n) und das Lendentuch Christi, das Marienkleid und das Enthauptungstuch Johannes des Täufers. Bis zu dieser Zeit, dem Beginn der Gotik, reicht es den Menschen, zu wissen, dass es im Dom Reliquien gibt. Doch jetzt entwickelt sich der Wunsch danach, Heiliges zu sehen und zu begreifen. Es ist die Zeit der ersten Monstranzen und Fronleichnamsprozessionen; die Zeit der Reliquiare, in die man hineinsehen und die heiligen Gegenstände sehen kann.
Und so bekommt auch der Marienschrein 1349 eine Öffmung, durch die die Heligtümer herausgenommen werden können. 1349 ist auch der Beginn des Sieben-Jahre-Rhythmus der Heiligtumsfahrt, vorher findet sie in unregelmäßigen Abständen von ein bis fünf Jahren
statt. Sie beginnt immer sieben Tage vor dem Kirchweihfest, mittlerweile wird der Beginn an die Termine der Schulferien angepasst. Heutzutage dauert sie zehn Tage. Schon in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts wird die Zeigung der Heiligtümer von den Türmen des Aachener Doms zum Brauch. Die Pilgerströme nehmen immer mehr zu, so dass der Platz im Dom nicht mehr für den Ansturm der Pilger ausreicht. 1322 gestattet der für Aachen zuständige Bischof von Lüttich daher die Heilige Messe vom Turm aus zu feiern und von dort aus die Reliquien zu zeigen. Die Heiligtumsfahrt wird zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Stadt. Händler, Gastwirte, Bäcker, Andenkenhändler – sie alle profitieren von den Pilgern. Einige alte Pilgerzeichen und Pilgerflaschen haben bis heute überdauert. Es gibt sogar eine alte Printenform, die einen Bischof darstellt, der ein Heiligtum zeigt. Wenn die Pilger in Aachen sind, besuchen sie aber auch die anderen Kirchen, die Reliquienschätze aufbewahren: St. Adalbert, St. Paul, die Abtei Burtscheid und auch Kornelimünster mit seiner Heiligtumsfahrt und der jährlichen Korneli-Oktav.
Nur Seuchen, Kriege oder Revolutionen unterbrechen die Tradition der Heiligtumsfahrt. Im 15. Jahrhundert drängen sich wiederholt täglich etwa 100.000 Pilger in die Stadt. Die Pilger, die den Dom während der Zeigungen dicht gedrängt umstehen, kommen aus fast allen deutschsprachigen Gebieten sowie den Anrainerstaaten der Ostsee und aus den Niederlanden. Gegen alle Widerstände hat die Aachener Heiligtumsfahrt die Jahrhunderte
überdauert. Zwar nimmt die Zahl der Pilger zur Zeit des Humanismus und der Reformation ab. Doch auch als Aachen um 1600 von einem protestantischen Rat regiert wird, findet die Heiligtumsfahrt statt. Politische Krisenzeiten bringen der Wallfahrt immer wieder großen Zulauf – sei es 1874 und 1881 während des Kulturkampfes oder auch 1937.
Fast eine Million Pilger kommen zu dieser Heiligtumsfahrt, die als die „Wallfahrt des stummen Protests“ in die Geschichte eingegangen ist. Die mehr als 750.000 Teilnehmer
bekunden damit ihren Unmut gegenüber dem nazionalsozialistischen Terrorregime. Auch wenn die Pilgerhörner heutzutage ebenso wenig zum Einsatz kommen wie die Aachen-Spiegel: Die Faszination Heiligtumsfahrt ist ungebrochen. Pilger aus der ganzen Welt reisen alle sieben Jahre zur Pfalzkapelle Karls des Großen. Mehr als 90.000 sind es 2007, darunter
Menschen aus den USA, Lateinamerika und Namibia, 2014 sind es rund 125.000 Menschen - denn bei der Aachener Heiligtumsfahrt gibt es Vieles zu entdecken!